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Leben auf der Achterbahn


Hinter den Kulissen des größten Volksfestes in Berlin


Für die einen ist es ein riesiger Abenteuerspielplatz, für die anderen ist das Deutsch-Französische Volksfest ein Zuhause auf Zeit. Der Alltag Berliner Schaustellerfamilien ist mehr als ungewöhnlich. Sie leben den Spagat zwischen Tradition und Moderne, sie setzen beharrlich auf Sicherheit – und sie wagen sich immer wieder auf neues, unbekanntes Terrain.

Zwanzig kräftige Männer stehen bereit, wenn die vierzehn Schwertransporter und Lkw-Gespanne vorfahren und rangieren, jeder an seinem vorher bestimmten Platz. Von nun an muss jeder Handgriff sitzen, die Zeit läuft. Von früh bis spät werden sie schleppen, montieren, sichern, prüfen. Eine Woche Stahl und Schrauben. Dann sind die 980 Schienenmeter verlegt und verbunden, in bis zu 25 m Höhe. Das ist die Stunde X, die Achterbahn steht – fertig zur Abnahme durch die Inspektoren des TÜV.

Mehr als 100 Fahrgeschäfte und Schaustellerbetriebe reihen sich auf dem DFV aneinander, verdichten sich zu einer schillernden Erlebnisfront von über 1,2 km Länge. Walzerbahn. Flugkarussell. Riesenrad. Nur eines haben sie gemeinsam: sie gehören zu den sichersten auf der Welt. Deutsche Fahrgeschäfte unterliegen den schärfsten Sicherheitsnormen weltweit. DIN- und EN-Normen, nach denen auch amerikanische Versicherungen die Fahrgeschäfte in US- Vergnügungsparks überprüfen lassen – ebenfalls vom deutschen TÜV. Mit Strenge und Akribie gewährleisten sie, dass das Erlebnis Nervenkitzel nach wie vor sicher zu haben ist.

Pioniere der Neuzeit


Visionären Schaustellern und findigen Ingenieuren ist es zu verdanken, dass Kirmes & Co. bis heute mit neuen Ideen begeistern, wieder und wieder. Schon das Neue an sich übt auf den Menschen starke Anziehungskräfte aus, fast magisch. Sei es durch technische Innovationen oder einfach nur durch neue, noch größere Dimensionen. Beispiel Wasserrutsche: 240.000 Liter rauschen hierfür mit Hochdruck durch das Kreislaufsystem und sorgen für eine feucht-fröhliche Rutschpartie. Das technisch Machbare ist allenfalls eine Frage der Zeit. Beispiel Eclipse: Schon heute erreichen Fahrgäste mit 4-facher Erdbeschleunigung in 48 Metern Höhe eine Geschwindigkeit von 90 km/h. Und spüren die volle Bedeutung des Wortes „Fliehkraft“ am und im eigenen Leibe. Ein Temporausch der besonderen Art; Genuss mit Haut und – wehenden – Haaren. Jedes Mal aufs Neue. Dennoch: Das Gesamtbild der Kirmes wandelt sich nur langsam. Auch wenn immer mehr Schausteller ihre Beleuchtung auf energiesparende LED umgerüstet haben. Die Fahrgeschäfte selbst, der Hunger nach Erlebnissen, sind weitestgehend zeitlos. Ob Autoscooter oder Melodystar, Losbude oder Schießstand, Kettenflieger oder Kinderkarussell. Was gut ankommt, das bleibt. Was gestern hochmodern war, avanciert entweder selbst zum Klassiker (Beispiel Break Dance) oder wird sich kaum länger halten als eine Generation. „Abstimmung mit den Füßen“ nennt man das in Fachkreisen, und auch das hat sich, wie das Streben nach Sicherheit, in all den Jahren nicht verändert.

Rund 60 Schaustellerfamilien, überwiegend aus dem Berliner Raum, stehen hinter den mehr als 100 Fahrattraktionen, Spielbuden und Verkaufswagen auf dem DFV. Von Anfang an und mithin am längsten dabei ist Familie Barthel. Ihre Walzerbahn, durchgehend in Familienbesitz, wird mittlerweile in der dritten Generation von Robert Barthel geführt, mit 34 Jahren der jüngste Schausteller vor Ort. Zu den älteren Semestern zählt Gisela Fischer, Jahrgang 1926, und immer noch im Süßwarenverkauf oder Schießwagen an Bord. Helfende Hände sind immer gefragt, denn zu tun gibt es allerhand im Alltag eines Schaustellerlebens.

In der Regel beginnen die Arbeitstage mit Reinigungs- oder Wartungsarbeiten, Wareneinkauf und Bürotätigkeiten. Auch ganz normale Hausarbeiten wie Wäschewaschen und Kochen sind noch zu erledigen, bevor man zum Mittagessen zusammen kommt. Um 15 Uhr, am Wochenende um 14 Uhr, öffnet das Volksfest seine Pforten – die Kernarbeitszeit der Schausteller beginnt. Nach Veranstaltungsschluss ist noch lang nicht Schluss. Dann heißt es Geschäfte schließen, Aufräumen, Saubermachen, Abrechnen – noch ein letzter Blick, ob alles in Ordnung ist. Der Feierabend beginnt für viele erst gegen 1:00 Uhr morgens. Die Zeit, in der Privates Platz hat, auch wenn es nur ein paar Quadratmeter pro Person sind, im Caravan oder Campinganhänger. Oder ein Quartier im Mannschaftswagen. Nicht jeder kann sich einen ausgebauten Schaustellerwohnwagen leisten, manche wollen es auch nicht. „Es gibt Wichtigeres im Leben, als Bequemlichkeit“ sagt einer, und das seien in erster Linie die Kinder. Gerade für Schaustellerkinder ist es schwierig, mit den wachsenden Anforderungen der Gesellschaft und Berufswelt Schritt zu halten. Soweit sie nicht bei Familienangehörigen in Berlin wohnen und geregelt zur Schule gehen können, erfolgt die schulische Bildung an den wechselnden Gastspielorten. Hierzu gibt es ein bundeseinheitliches Schultagebuch. Die Heimatschule als Stammschule bewertet dies und entwickelt danach die Lehrpläne für unterwegs. Dabei arbeitet der Deutsche Schaustellerbund auf Bundesebene sehr eng mit der Kultusministerkonferenz zusammen. Bildung ist auch für Schaustellerkinder eine der wichtigsten Voraussetzungen, um für die Zukunft gewappnet zu sein. Ganz gleich, womit sie später ihr Geld verdienen wollen. Nicht wenige Eltern hoffen, dass die Tradition ihrer Familie weitergeführt wird.

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